Vor dem Spiegel des Evangeliums von Jesus und Franziskus

Wir befinden uns mitten in der 68er Jahren. Auch in der katholischen Kirche herrscht eine Atmosphäre tiefgreifender Konflikte. In den Pfarreien, Seminaren und Instituten herrscht der radikale Wunsch, die Strukturen zu verändern, die Starrheit der Regeln zu durchbrechen, das Gesicht der Kirche zu verändern, die immer noch an Reichtum und Macht gebunden ist. Palmira Frizzera, eine der ersten Fokolare, wird von einer Gruppe junger Franziskaner-Studenten in Padua zu einem Abendessen eingeladen und bietet ihnen eine ernsthafte Besinnung über ihr eigenes Leben und ihre Berufung.


 

Wir gehen auf ein besonderes Ereignis ein, das sich am 17. Februar 1972 in Padua im Theologischen Institut des Heiligen Antonius in der Via S. Massimo 25 des Ordens der Franziskaner-Minoriten ereignete.

Vorerst muss man jedoch einige Umstände kennen, die zu diesem Ereignis führten.

Seit mindestens zwei Jahren hatten mehrere junge Männer in diesem franziskanischen Institut das Priesterseminar bereits verlassen. Die damaligen Oberen versuchten, inmitten der Studentenproteste die Ordnung aufrechtzuerhalten, und beschlossen für das Schuljahr 1971-1972, die Studenten in kleine Gruppen von 7 oder 8 jungen Leuten aufzuteilen, wobei ein junger Priester als Betreuerr jede Gruppe verantwortlich war. Jede dieser neu gebildeten kleinen Gemeinschaften musste ihr tägliches Leben selbst in die Hand nehmen, auch in finanzieller Hinsicht.

Pater Amedeo Ferrari, ein junger Priester und Franziskaner-Konventuale, wurde mit einer Gruppe von 7 jungen Ordensleuten betraut, die an diesem Institut Theologie studierten.

 

Das Zentrum Studi Antoniani, das zum Komplex der Basilika des Hl. Antonius von Padua gehört und von den Franziskaner-Konventualen geleitet wird, lud gelegentlich Experten aus verschiedenen Bereichen zu Vorträgen ein. Aus diesem Grund war es in der Region sehr bekannt und angesehen. Im Jahr 1972 bat der Direktor den Pater Amedeo, Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, einzuladen, um über ihre spirituelle Erfahrung und die Entstehung der Bewegung zu berichten.

Chiara Lubich antwortete auf die Einladung. Sie konnte nicht kommen, aber sie sandte an ihrer Stelle eine der ersten Fokolarinnen: Palmira Frizzera. Für Pater Amedeo schien dies die Antwort auf sein Gebet an die Gottesmutter zu sein.

 

Als Palmira Frizzera in Padua ankam, ging Pater Amedeo zum Fokolar der Frauen, wo sie wohnte, und erzählte ihr von der Situation der Proteste unter den Jugendlichen, den Sorgen der Oberen und ... dem Gebet an die Muttergottes. Palmira erklärte sich bereit, an einem Abendessen mit ihnen teilzunehmen.

P. Egidio Canil, ebenfalls Priester des Ordens der Konventualen, war einer der Studenten in der Gruppe. Er hatte die Spiritualität der Fokolare in Brescia in den Jahren 1964-1966 kennen gelernt. Seit 1967 lebte er in Padua, um dort das Hauptseminar zu besuchen und Philosophie und Theologie zu studieren, aber "obwohl ich die Bewegung weiterhin schätzte, hatte er sich von ihr entfernt.

Er erzählt: "Nun, in diesem Kontext der grossen Proteste gegen die Kirche, gegen ihren Reichtum, gegen die kirchliche Hierarchie und die Oberen, fand das Treffen mit Palmira Frizzera statt. Ich erinnere mich, dass wir 7 Studenten erfreut waren, eine Frau zu treffen, die eine neue Lebensentscheidung getroffen hatte. Und für mich war es eine sehr schöne Erinnerung an die Erfahrung mit der Spiritualität der Fokolare".

Es war der 17. Februar 1972.

"Zum Abendessen gab es ein gutes Kaninchen mit Gemüse und zum Schluss ein Eis", erzählt Pater Amedeo. Palmiras Treffen mit diesen jungen Leuten endete gegen 23 Uhr. Zuerst wollte Palmira die Geschichte eines jeden kennenlernen und ihren Wunsch, Priester und Franziskaner zu werden. Mehr als zwei Stunden lang hörte sie ihnen zu, ohne sie zu unterbrechen.

Dann stellte sie mit grosser Einfachheit, mit Liebe und in Wahrheit - "aber ohne jegliche vorwurfsvolle Haltung", so Pater Egidio - einige Fragen: "Aber wollt ihr mit diesen Ideen dem Heiligen Franziskus folgen? Aber wollt ihr mit diesem 'Geist' Priester werden? Aber wollt ihr mit dieser Haltung gegenüber der Kirche Gott wählen? Aber wollt ihr mit diesem inneren Zorn das Evangelium in der Welt bezeugen?"

Am Ende verabschiedete sich Palmira ruhig und gelassen und verliess das Priesterseminar. Die jungen Leute mussten über die Antworten auf die Fragen nachdenken, die in ihren Seelen in der Krise widerhallten... Aber vor allem, so bezeugte Pater Amedeo, "fühlte sich jeder geliebt, aber auch von allen Illusionen der Proteste befreit und vor den Spiegel des Evangeliums Jesu und des heiligen Franziskus gestellt". Pater Egidio war noch lapidarer: "Wir waren sprachlos".

Am nächsten Morgen, vor ihrer Abreise nach Rom, kam Palmira im Seminar vorbei, um sich von der Gruppe zu verabschieden und eine grosse Schachtel Pralinen als Geschenk zu hinterlassen, mit der Einladung, nach Rom zu fahren und die Freundschaft mit ihr und dem Fokolar, in dem sie lebte, zu vertiefen.

 

"In den folgenden Tagen machten wir uns alle daran, unser Leben zu überprüfen. Und wir erkannten, dass es Gott war, der uns diese Kreatur geschickt hatte. Wir mussten eine Entscheidung treffen! Das heisst, den Sinn unserer Ordensberufung neu entdecken", erzählt Pater Egidio. "Und wir haben alle beschlossen, die Beziehungen zu Palmira aufrechtzuerhalten".

Der Ordensmann erinnert sich noch an einige Früchte, die aus diesem Treffen hervorgingen: "Ich habe verstanden, dass 'Gott mich unendlich liebt'! Dass das Evangelium ein Buch ist, das gelebt werden muss, und nicht nur gelesen, meditiert und studiert! Ich verstand, dass der Sinn des Lebens darin bestand, zu lieben, alle zu lieben, auch die Vorgesetzten, die Mitmenschen; nur so würde ich mein Leben, meine Berufung erfüllen, und ich würde glücklich sein! Von da an hatte ich keine Zweifel mehr, dem Ideal zu folgen und es zu leben!

Zwischen diesen jungen Männern und Palmira blieb eine tiefe und starke Freundschaft bestehen. Zweimal kamen sie zu ihr nach Rom, um ihr von ihren Erfahrungen und den Veränderungen seit dem Treffen in Padua zu berichten. Es war eine Beziehung, die über viele Jahre hinweg durch Treffen und Briefwechsel aufrechterhalten wurde.

Eine besondere Wertschätzung und Sympathie für die Fokolar-Bewegung ist in diesen jungen Menschen geblieben. Alle sieben Studenten der Gruppe von Pater Amedeo sind Mitglieder des Ordens der Konventualen.  Drei von ihnen sind auch Mitglieder des religiösen Zweigs der Fokolar-Bewegung. Pater Egidio leitet derzeit das Zentrum der Spiritualität r Ordensleute "Claritas" in der internationalen Siedlung der Fokolar-Bewegung in Loppiano, in der Nähe von Florenz (Italien).

"Palmira war für mich das Werkzeug Gottes, um die Beziehung zum Charisma der Einheit, zum Werk Mariens, zu Chiara und zum Zweig für Ordensleute wiederzuentdecken", sagt P. Egidio und schliesst damit, dass "das Leben des Ideals mich dazu gebracht hat, die Kirche, die Hierarchie und die Oberen zu lieben und meiner Entscheidung für Gott, für meine franziskanische Berufung, aber auch dem Ruf, das Charisma der Einheit zu leben, wieder einen Sinn zu geben". Ähnlich äusserte sich Pater Amedeo: "Ich kann sagen, dass Palmira für mich eine Wegbegleiterin war, die mir geholfen hat, dem Charisma der Einheit und dem Ideal von Franziskus treu zu sein".

 

Lucas Oliveira